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Geschriebenes

Ich wünschte mir Bamberg als einen Ort mit genau dem Ab-

stand zur Welt, den die Literaturproduktion braucht. Für fünf

Monate wollte ich mich vom Berliner Alltag, den Nachrichten,

dem Internet entfernen, um mich einem neuen Roman zu nä-

hern. Aber natürlich lässt sich dieWelt an keinemWLAN-fähi-

gen Ort der Welt auf Abstand halten. Während die Regnitz ihr

Wasser mit starker Strömung an meinen Fenstern vorbei spült,

spült die medial vermittelteWelt übers Netz inmeine konkrete

Bamberger Wirklichkeit.

15. April

Von den mittelalterlichenWandmalereien imBamberger Dom

haben nur die sogenannten Judenfratzen im Gewölbe über-

dauert, und es wird bis heute diskutiert, ob diese Spuren von

Antisemitismus entfernt oder als historische Zeugnisse bewahrt

gehören. AmAbend schreibt mir J. eine Nachricht: »Notre Da-

me macht mich völlig traurig, bin fast am Heulen.« Weil ich

keine Nachrichten schaue und J. neuerdings eine französische

Freundin hat, denke ich, Notre Dame sei ihr Spitzname, und er-

kundige mich nach seinen Beziehungsproblemen. Er antwortet

mit vielen Schlapplachsmileys und Fotos der brennenden Kir-

che. Ich spüle den hässlichen Gedanken, dass die falsche Kirche

brennt, mit einem Rauchbier hinunter.

26. Mai

ImVillagarten sind die deutsche und die britische Nationalflag-

ge gehisst. Ich habe gelernt, dass ich in einer staatlichen deut-

schen Behörde wohne, und dass staatliche deutsche Behörden

an zehn Feiertagen im Jahr sowie zu Wahlen zum Flaggehissen

verpflichtet sind. Für die Villa Concordia gelten die Regelungen

zur Beflaggung imFreistaat Bayern vom4. Dezember 2001. Ich

checke die Europawahlergebnisse in meinen Heimaten mit B

und sortiere sie absteigend nach dem blau wählenden Bevölke-

rungsteil, mit dem mich nichts mehr verbindet: Brandenburg,

Berlin, Bamberg. Mir ist nach Halbmast, mir ist nach Entflag-

gung.

24. Juni

Bei meinem Vorstellungsabend lese ich einen Essay gegen die

Zielsetzung der inneren deutschen Einheit. ImVeranstaltungs-

saal der Villa Concordia materialisiert sich plötzlich der Text:

Das ostsozialisierteWir sind die PotsdamerMusiker und ich auf

der Bühne, das westsozialisierte Ihr das Bamberger Publikum

im Saal. Nachher sagen mir viele, sie hätten so darüber noch

nicht nachgedacht, was mich gleichzeitig freut und erschüttert,

weil Verblüffung eine bisherige Ignoranz voraussetzt. Ich denke

an den Heimathorst, der im April 61 außerplanmäßige Millio-

nen beim Finanzministerium beantragte, um die anstehenden

Jubiläen vonMauerfall undWiedervereinigung zu finanzieren.

Eigentlich geht das nur bei Naturkatastrophen und anderen

Unvorhersehbarkeiten. Ich google: Die Grenze zu Thüringen

ist 60 Kilometer von Bamberg entfernt.

29. Juni

In Italien wird Carola Rackete, die Kapitänin der Sea Watch 3,

festgenommen, nachdem sie 53 libysche Geflüchtete aus See-

not gerettet hat; vorgeworfen werden ihr Beihilfe zur illegalen

Einwanderung und Verletzung des Seerechts. Ich habe eine

Dauerkarte für die Fähre, die hinter der Villa Concordia über

den linken Regnitzarm setzt und mit der Strömung des Flusses

betriebenwird. Heute fällt mir zumerstenMal ein Schild unter-

halb des Steuers auf, das über die zu ergreifenden Maßnahmen

zur Rettung Ertrinkender informiert. Die Fährfrau sagt, es sei

noch nie jemand über Bord gegangen. Ich ahne allmählich: Ich

halte eine bestimmte Sorte Gleichzeitigkeit nur schwer aus.

10. Juli

Ich habe gerade entschieden, eine Zeit lang nicht öffentlich auf-

zutreten, da zittert AngelaMerkel auf meinemBildschirm. Zum

drittenMal schüttelt sich ihr Körper, wenn sie regungslos stehen

muss, durch die Kameras für die ganze Welt sichtbar. Bei der

Pressekonferenz sagt sie, »dass es so, wie es gekommen ist, eines

Tages auch vergehen wird.« Ich schüttele den Kopf, als könnte

die mediale Welt meine konkrete Reaktion wahrnehmen, und

sage das Hebb’sche Gesetz auf:What fires together, wires toge-

ther. Je häufiger bestimmte Neuronen zusammen feuern, umso

wahrscheinlicher werden sie das künftig wieder tun. Je häufiger

sie zittert, umso wahrscheinlicher wird sie künftig in vergleich-

baren Situationen zittern. Ich frage mich, ob sich auch mediale

Wiederholungen des Zitterns in den Körper von AngelaMerkel

einschreiben, oder nur in den des öffentlichen Gedächtnisses,

und ob beispielsweise auch dieser Text Neuronen verdrahtet,

sodass sich ein Zitternmit höhererWahrscheinlichkeit wieder-

holt.Wenn ich in der Regnitz gegen die Strömung anschwimme,

frage ich mich immer öfter, ob ich an diesem öffentlichen Ge-

dächtnis mitschreiben sollte. Meistens kommt mir die Verant-

wortung zu groß vor. Zur Halbzeit in der Villa Concordia zählt

meine Romandatei trotzdem 140.000 Zeichen.

Chronik der merkwürdigen

Verbindungen zwischen Welt

und Ort

Notizen von Paula Fürstenberg

zur Halbzeit in der Villa Concordia

Paula Fürstenberg studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in

Biel und lebt in Berlin. Der Debütroman der mehrfach ausgezeichneten

Autorin, »Familie der geflügelten Tiger«, erschien 2016 bei Kiepenheuer &

Witsch. Als Stipendiatin im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia

in Bamberg schreibt sie an ihrem zweiten Roman. Sie ist u. a. im Vor-

stand des Netzwerks Freie Literaturszene Berlin und als Berliner Koordi-

natorin der Aktionsgruppe

Literatur für das, was passiert

aktiv.

villa-concordia.de/kuenstler/im-haus/detail/fuerstenberg.html

In unserer neuen Aviso Rubrik Geschriebenes

finden junge literarische Stimmen Platz.