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iIchmag es nicht, jKostümek zumachen, ichmöchte Charaktere

erschaffenl, sagt Kristīne Jurjāne. Die Arbeit imKostümdesign

ist für sie Leidenschaft und Luxus zugleich, eine Möglichkeit,

in verschiedene Zeiten und Länder einzutauchen. Im Frühling

2018 begann die Arbeit an Anton Tschechows iMöwel, die am

20. Juli 2019 zum letztenMal zu sehen ist. An erster Stelle steht

für alle Beteiligten die Lektüre des Stücks. Der Text gibt vor,

welche Kleidungsstücke, ob Abendrobe oder Morgenmantel,

benötigt werden und liefert darüber hinaus viele Details über

die einzelnen Charaktere, die Jurjāne in ihre Arbeit einfließen

lässt. Ob eine Figur exaltiert oder melancholisch ist, lässt sich

anhand der Kostüme gut ausdrücken. Regisseur Alvis Hermanis

verortet seine Inszenierung in der Entstehungszeit des Stücks

um 1900. Sobald mit der Regie ein Konzept abgesteckt ist,

schaut sich Jurjāne zuerst die Schauspieler an, denn die Kostüme

müssen zu Statur und Charakter jedes einzelnen passen. Neben

der Recherche historischer Kleidermode sind ihre Beobachtun-

gen Jurjānes größte Inspirationsquelle. Aus ihnen entstehen

die Zeichnungen, anhand derer die Schnittmuster entworfen

werden. Ihre Arbeit vergleicht Jurjāne mit dem Handwerk des

Bildhauers, der seine Plastiken Schicht für Schicht heraus-

arbeitet. Sobald die Kostüme angepasst sind, schickt Jurjāne

die Schauspieler in ihren Anzügen nach Hause. Die sollen sich

in ihren Kleidern schließlich wohl fühlen und sie sich zu eigen

machen. Wenn die Proben auf der Bühne beginnen, kann sich

dann noch einiges ändern. Die Gewänder der Schauspielerin-

nen haben zeitgenössisch weite Röcke und enge Mieder, die

sie in ihren Bewegungen einschränken. Auf der Bühne müssen

sie deshalb erst lernen, mit kurzem Atem zu spielen und mit

ihren Röcken keine Gegenstände von den Möbeln zu wischen.

Schließlich sollen die Kostüme auf der Bühne authentisch und

lebendig wirken. »Um etwas Altes neu zu machen, muss man

den Staub abklopfen«, sagt Jurjāne. Ihre Kostüme sollen weder

kitschig noch märchenhaft wirken. Weil die Gegenwart immer

auch unsere Sicht auf die Vergangenheit beeinflusst, muss man

der Erwartungshaltung der Zuschauer Rechnung tragen. Umzu

verstehen, wie sich unser Bild von vergangenen Epochen stetig

verändert, kann man sich historische Filme vergangener Jahr-

zehnte anschauen. Aus Alt undNeu entstehen somit Kleider, die

auf uns authentisch wirken. Farben und Requisiten tun ihr Üb-

riges, um die Illusion zu vervollständigen. Die ausgeblichenen

Pastelltöne der Kleider spiegeln die Zerbrechlichkeit der Belle

Époque. Und nicht zufällig wiederholt sich der Schimmer der

Seidenstoffe in der Lasur des antiquiertenMobiliars: die Schau-

spieler verschmelzen darin mit der Bühne förmlich zu einem

bürgerlichen Tableau vivant. Mit Kristīne Jurjānes Kostümen

erstehen die literarischen Figuren aus Tschechows Drama als

reale körperliche Gestalten, die auf der Bühne von den Ensem-

ble-Mitgliedern mit Leben ausgefüllt werden.

Hinter den Kulissen

– Bleistift und Spitze

Hinter den Kulissen Diese neue Rubrik stellt

eine Person aus Bayern vor, die im Verborgenen

dafür sorgt, dass der (Kultur)laden läuft.

Irina Nikolajewna Arkadina aus Tschechows Möwe, gespielt von Sophie von

Kessel, ist eine anerkannte Schauspielerin, die in ihrer Jugend viele

Erfolge gefeiert hat. Dies stellt sie auch mit ihrer Garderobe zur Schau.

Bis zum Ende der Spielzeit gibt es noch die Gelegenheit, im Blog des

Residenztheaters Blicke hinter die Kulissen zu werfen. Und wer die »Möwe«

noch nicht gesehen hat, kann das am 15. oder 20. Juli noch nachholen.

residenztheater.de/blog

Kristīne Jurjāne, Kostümbildnerin für

Anton Tschechows

Die Möwe

im Cuvilliéstheater

Hinter den Kulissen

Foto: Bayerisches Staatsschauspiel-Residenztheater

Residenztheater-Blogbeitrag von Florian Holzapfel