Previous Page  11 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 11 / 52 Next Page
Page Background

11

Foto: Judith Kinitz

Über, in und um die Künste –

Nora Gomringer meint

Nora Gomringer, Schweizerin und Deutsche, lebt in Bamberg. Sie

schreibt, vertont, erklärt, souffliert und liebt Gedichte. Alle Mündlich-

keit kommt bei ihr aus dem Schriftlichen und dem Erlauschten. Sie

fördert im Auftrag des Freistaates Bayern Künstlerinnen und Künstler

internationaler Herkunft. Dies tut sie im Internationalen Künstlerhaus

Villa Concordia. Und mit Hingabe.

nora-gomringer.de

Kunst! Du!

Kunst! Du!

In der ehrwürdigenGalerie Tate Britain in London

werden dieMänner ab- und die Frauen aufgehängt.

Was zunächst martialisch, gar barbarisch klingt, ist

der Versuch, eine Blickkorrektur vorzunehmen.

Aber anders begonnen: Als Kind war ich »stab-

sichtig«. Das Licht bündelte sich hinter meiner

Pupille zu Stäben, so die lapidare Erklärung in ein-

facher Sprache für das nachfragende Neugierkind.

Ich trug eine Brille und liebte sie, bis mir mit etwa

12 Jahren auffiel, dass ich sehr gut sehen konnte

und sie immer öfter ablegte. Der Kinderarzt sag-

te damals voller Stolz, er hätte das gewusst! Mit

der Pubertät und der entsprechenden Brille würde

sich das Phänomen auswachsen. Nun, voilà! Ich bin

brillenlos durch Jugendzeit und Adoleszenz, Stu-

dium und Arbeitswelt gewandelt. Hip und trendy

wie ich bin, setze ich mir große, seltsame Modelle

gernemal auf, wenn ichmich nicht schminken will.

Da gibt es dann einiges an spöttischer Nachrede zu

ertragen. Aber das geht. Das ist ein Accessoire, das

kann man ablegen. Nun. Wie kriege ich die Kurve

zur Tate?

Wie viele Feministinnen meines Alters stehe ich

zwischen den Stühlen, die alle Feministinnen,

die älter sind als ich, kennen. Es ist ein Schwellen-

und damit Altersphänomen, das einen um die 40

einholt: den Jungen ist man nicht radikal genug,

den alten auch nicht. Alle sehen »ihren« Kampf

als verraten an, man selbst steht da rum in der

40er-Schleuse und tritt auf der Gedankenstelle.

Was will ich, was habe ich bereits erlebt und will

es deshalb auf keinen Fall mehr, wer will ich sein

in den nächsten 20 Jahren? Und wer bin ich über-

haupt? Diese lästige, pubertäre Frage zieht sich

rotfadengleich durchs Leben. Kannman nichts ma-

chen. Manchmal einen Antwortversuch in ein Ta-

gebuch kritzeln und sich wundern. In der Tate also

haben sie beschlossen, dem Betrachter die Augen

zu öffnen und diesen Prozess zu beschleunigen. Die

»Kulturaugen« oder besser, die Augen und Ohren

und Sinne, mit denen wir Kultur aufnehmen, be-

werten, tradieren, gilt es zu öffnen. Ich lerne Män-

ner und Frauen kennen, die haben noch nie aktiv

ein Buch von einer Frau gelesen oder können aus

ihren eigenen Lektüren – und oft sind sie stolz auf

ihre Belesenheit! – nicht 3 Titel aus demGedächt-

nis zitieren, die von einer Frau geschriebenworden

wären. Das zeigt mir vor allem an, wie natürlich es

für uns ist, hauptsächlich dieWerke der Kultur, die

vonMännern geschaffenwurden, aufzunehmen. Es

wird auch leicht gemacht. In meinem Schulmusik-

unterricht habe ich von genau einer Komponistin

gehört: Clara Schumann. Die Entscheidung der

Tate, ausschließlich »Frauen zu hängen«, also die

Bilder und Installationen von britischen Künst-

lerinnen noch bis zum nächsten April zu zeigen,

ist richtig. Vielleicht nicht richtig für ältere, weiße

Frauen und Männer, deren Wege sie immer wie-

der in dieselben gedanklichen Salons führen, aber

für die zahlreichen »stabsichtigen« Mädchen und

Jungs, die mit etwa 12 Jahren ihre Brillen ablegen,

weil sie feststellen, dass sie ihrer Seh- und damit

Urteilskraft vertrauen wollen und können, ist es

perfekt. Gehen Sie sich diese schöne neueWelt an-

sehen, vielleicht gefällt Sie Ihnen sogar (besser)!