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WORAUF ICH MICH FREUE
UDO HAHN
DAS IST JA
mal eine Vorgabe: Worauf ich mich freue! Haben
Sie sich dabei ertappt, dass Sie, wenn Ihnen die Frage ge-
golten hätte, erst einmal hätten überlegen müssen? Ich will
ehrlich sein: Doch, ich habe kurz innegehalten. Und mich
ein bisschen über mich selbst geärgert. Typisch, kam mir in
den Sinn, wir denken meist zuerst an das Negative – an das,
was nicht läuft, was keine Freude bereitet, an die Hausfor-
derungen, die es zu bestehen gilt. Als sei alles immer zuerst
problembeladen. Was es in der Regel meist nicht ist.
Natürlich gibt es auch an einem Arbeitsplatz im Schloss
Tutzing, dem Sitz der Evangelischen Akademie Tutzing, viel
Alltagsgeschäft, die üblichen Routinen und – ja – auch Stress
und Verdruss. Wäre auch seltsam, wenn es nicht so wäre.
Für viele unserer Gäste – die 8.000, die zu unseren eigenen
Tagungen kommen, und für weitere 6.000, die über Klau-
suren, Seminare, Workshops und Kongresse von Firmen, Stif-
tungen, Universitäten und Einrichtungen hierher kommen –
sind wir ein Kraftort. Theologenkollegen heben bei diesem
Begriff meist den warnenden Zeigefinger: Achtung, Esote-
rikverdacht! Aber warum soll man einen solchen Begriff den
Esoterikern überlassen?
TATSÄCHLICH BRAUCHT ES
Orte, um sich auf Zeit von
der Welt zurückzuziehen, um sich umso intensiver mit der
Welt zu beschäftigen. Vielen gilt die Evangelische Akademie
Tutzing als Denkwerkstatt. Als Raum, der nicht schon von
Interessen dominiert wird, sondern als Forum, das Men-
schen aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Medien
und Kirche zusammenführt. Meinungsbildung möglich zu
machen, die unterschiedlichen Positionen kennenlernen und
urteilsfähig werden – das zeichnet unsere rund einhundert
Tagungen aus, die wir Jahr für Jahr im Kollegium planen.
An einem Ort, den Menschen wegen seiner interessanten
Diskurse aufsuchen, spielt das Ambiente eine unübersehbare
Funktion: Wohnen im Schloss, verköstigt werden in einem
Restaurant, das nur frische Produkte verarbeitet, die zum
weit überwiegenden Teil aus der Biolandwirtschaft kommen,
den Tag ausklingen lassen in den Salons, dazu noch der Blick
von der Seeterrasse auf Zugspitze, Wetterstein und Kar-
wendel. In diesem Umfeld sind die Menschen für Bildungs-
prozesse und Kräfte zehrende Debatten in besondere Weise
aufgeschlossen.
DAS GILT Z. B.
für Politiker, die sich vor mehr als fünfzig
Jahren über die Möglichkeiten einer Ostpolitik stritten – und
Egon Bahr hier das Motto »Wandel durch Annäherung« er-
fand. Das gilt auch für Multiplikatoren aus anderen Bereichen
der Gesellschaft, die ProAsyl in der Evangelischen Akademie
Tutzing erfanden – oder die »Elternzeit«. Eine Denkwerk-
statt, die offen ist für alle, denen die Welt nicht gleichgültig
ist, sondern die nach Lösungen in der Zivilgesellschaft suchen.
An diesem Ort dienen zu dürfen, ist eine wahre Freude.
Worauf ich mich freue: im fünften Jahr meiner Tätigkeit
vielleicht doch die eine oder andere Tagung im eigenen Haus
mehr besuchen zu können…
aviso 1 | 2016
DINGWELTEN – UNIVERSITÄTEN ALS SAMMLER
WORAUF ICH MICH FREUE
Udo Hahn
ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.