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Text:

Harald Welzer

ÜBER DIE ZUKUNFT

zu sprechen bzw. über die Frage, wie

unserem Typ von Gesellschaft die Zukunft abhandengekom-

men ist und wie man sie möglicherweise wiedergewinnen

könnte, ist in der Tat ein Thema, das mich auf vielfältige Art

und Weise beschäftigt und in den letzten Jahren sehr stark

umgetrieben hat. Ich glaube, dass wir gegenwärtig ein Pro­

blemhaben in den westlichen Gesellschaften und demzufolge

auch insbesondere in unserer Gesellschaft: dass wir in diesem

Land Privilegierte eines zivilisatorischen Erfolgsmodells sind –,

das eine unglaubliche Menge an materiellen wie immateriel-

len Gütern mit sich gebracht hat, dass die Erfolgsfalle dieses

Zivilisierungsmodells aber darin besteht, dass es in einem

bestimmten Stadium seinen Höhepunkt erreicht zu haben

schien undman dann vergessen hat, an diesemZivilisierungs-

modell weiterzuarbeiten. Mich interessiert in meiner gegen-

wärtigen Arbeit: Wie können wir die Punkte wiederfinden

und reaktivieren, die an diesem zivilisatorischen Projekt un-

bedingt fortsetzungsfähig, aber auch fortsetzungsnotwendig

sind? Und was ist der Preis, den man in Kauf nehmen muss,

wenn man das zivilisatorische Projekt weiterbauen will?

Ich erzähle ja gerne Geschichten, etwa diese Geschichte

von dem Historiker des 23., 24. Jahrhunderts, der auf das

21. Jahrhundert in westliche Gesellschaften zurückschaut

und versucht, mit seinen Forschungsteams und Big Data zu

rekonstruieren, was das eigentlich für eine Welt gewesen ist,

deren Gegenwart wir gerade bauen. Diese Historiker-/His-

torikerinnen-Teams finden Konflikte, Gewalt war noch nicht

abgeschafft im 21. Jahrhundert, ein Wirtschaftssystem, das

Züge des Absurden getragen hat. Das meiste ließ sich mit

Deutschland als

Zukunf t von gestern

einigemAufwand rekonstruieren und verstehend nachvollzie-

hen. Absonderlich und unerklärlich finden sie aber bei allem

Erklärungsaufwand z. B. den Umstand, dass in Deutschland

gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts Schlösser gebaut wer-

den. Und die Frage, die man dann in den Forschungsteams

diskutiert, ist: Die waren doch Demokratie; die haben doch

eigentlich im 20. Jahrhundert ein Fortschrittsmodell ausge-

arbeitet gehabt; die hatten doch Formen der Repräsentation

entwickelt. Wie kommt es, dass jetzt amAnfang des 21. Jahr-

hunderts in der Hauptstadt ein Schloss wiederaufgebaut wird,

dass in der brandenburgischen Landeshauptstadt, in der

niedersächsischen Landeshauptstadt, überall Schlösser wie-

deraufgebaut werden, so als sei das Selbstverständnis dieser

Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts am besten ver-

körpert im Absolutismus? Eigenartig, sehr eigenartig, eine

Zeitverschiebung, die man da feststellt. Und man muss ja in

der Tat auch sagen, eine sehr eigenartige Form, jetzt mal rein

phänomenologisch. Wenn wir z. B. sehen, was in der frü-

hen Nachkriegszeit, sprich: in den 1950er-, 1960er-Jahren,

eigentlich für eine Form von architektonischer Repräsentanz

dieses Westens gebaut worden ist. Die Parlamentsgebäude in

Stuttgart, in Hannover, in vielen anderen Städten, die ganze

Architektur in Bonn, der Kanzler-Bungalow. Das alles hat

einen Ausdruckscharakter der Vorstellung von einer moder-

nen Demokratie, die auf Partizipation und Transparenz, aber

nicht in so einem digitalen Sinne, sondern Transparenz im

Sinne des politischen Handelns, basiert. Folgerichtig wirft

die Idee, sich selber zu repräsentieren in einem vollkommen

ungleichzeitigenModell wie demBerliner Stadtschloss, dann

notwendig die Frage auf: Was soll man denn da reintun? Und

aviso 2 | 2017

WO IST DIE ZUKUNFT GEBLIEBEN?

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