Aviso 04/20

46 Worum geht es in Ihrem Projekt, was ist Ihre Zielset- zung? Mich interessiert die literarische Verhandlung des Sterbens sowohl aus der Perspektive Sterbender wie auch aus der Perspektive der Menschen, die sie begleiten und überleben. Meine Lektüren sind dem literarischen Ringen nach Worten und Bildern auf der Spur, das die tektonischenVerschiebungen in den KoordinatenRaum, Zeit und soziale Relationen eines durch den Tod erschütterten Lebens zu benennen sucht. Die Literatur hat das Vermögen, einen ande- ren Blick auf gesellschaftlich virulente Themen –wie das Altern, das Sterben und den Tod – zu werfen als einschlägige medizinische, pflegerische, rechtliche und versicherungstechnische Diskurse. Literarische Texte können Probleme adressieren, die medizini- sche Entwicklungen aufwerfen – wie z. B. die Frage, was Autonomie bei schwer kranken Patient*innen bedeutet –, selbst aber nicht bearbeiten können. Als Amerikanistin befasse ich mich vorwiegend mit US- amerikanischen Romanen und Autobiographien, das Thema ist aber gerade in den letzten vier Jahrzehnten auch in Europa stark präsent – und das nicht aus- schließlich in der Literatur. Wo noch? Es gibt eine neue kulturelle Sichtbarkeit des Themas in der Kunst und der Ausstellungspraxis, in Filmen und TV-Serien und nicht zuletzt im Internet. Dort entstehen digitale Friedhöfe, der digitale Nachlass wird stark diskutiert, und es entwickeln sich neue Praktiken der Trauer, wie z. B. die inzwischen welt- weit verbreitetenDeath Cafés. Mich interessiert, wie literarische Texte zu dieser neuen kulturellen Sicht- barkeit beitragen und wie sie welche Impulse für eine Reflexion, Erweiterung und Verschiebung all dessen setzen, was uns fernab einer Konfrontation mit dem Tod ‚normal‘ und nicht hinterfragbar erscheint. Wie kommt es zu dieser neuen kulturellen Sichtbarkeit des Todes? Ich nehme an, dass die kulturelle Konjunktur der Auseinandersetzung mit dem Tod, die ja an sich nicht neu ist, mit grundlegenden biomedizinischen Entwicklungen zu tun hat, die dafür gesorgt haben, dass Menschen in postindustriellen Gesellschaften, die Zugang zu entsprechender medizinischer Ver- sorgung haben, länger leben und anders sterben als zuvor. Heute könnenMenschenmit Krankheiten, die bis vor kurzem noch schnell zumTod geführt haben, viele Jahre leben. Mit demhohen Alter, das wir errei- chen können, steigt das Auftreten vonMultimorbidi- tät undDemenzerkrankungen. Damit rücken uns die Themen Altern, Sterben, Tod und Trauer quasi neu auf den Leib. Sie gesellen sich neben eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte der räum- lichen und psychischen Verdrängung des Todes. Im Angesicht dieser Verdrängung fordert uns die gesell- schaftliche und kulturelle Sichtbarkeit des Todes da- zu auf, uns mit demThema zu beschäftigen und auch das Leben neu zu bewerten. Ich denke, dass die ak- tuelle Coronapandemie ebenfalls zu einer stärkeren gesellschaftlichen Sichtbarkeit des Todes beiträgt. Der Titel Ihres Forschungsprojekts lautet: Death Be- comes Us. Sie hatten ihn einmal mit »Der Tod ist uns angemessen« übersetzt. Warum dieser Titel? Der Titel drückt eine Nähe zum Tod aus, die wir un- gern sehen wollen. Auf welcheWeise schafft es Literatur über dieses Thema zu sprechen? Wie schreibt man über das »Nichts«? Der Tod ist letztlich unbegreifbar, aber die funda- mentale Infragestellung, die er impliziert, betrifft uns alle –wenn auch nicht auf gleicheWeise, denn soziale und materielle Bedingungen und Umwelten wirken sich immer prägend aus. Für sterbende Menschen und für Menschen, die Sterbende begleiten, ist die Konfrontation mit dieser Unbegreifbarkeit, mit den eigenen Grenzen und der Kontingenz eine alltägli- che Erfahrung. Das weiß z. B. die noch sehr junge Palliativmedizin, aber das weiß auch die Literatur. Die ästhetischen Formen, in denen ein existentielles Wissen davon vermittelt wird, wie wenig wir wissen und kontrollieren können, undwelch ungeahnteGrö- ße die einfachen Dinge annehmen können, sind sehr unterschiedlich. Yiyun Li z. B. imaginiert in ihrem Roman Where Reasons End (2019) das Gespräch einer Schriftstellerin mit ihrem Sohn, der sich im Alter von 16 Jahren das Leben genommen hat. Der Neurochirurg Paul Kalanithi beschreibt in seiner breit rezipierten Autopathographie When Breath Fragen? Antworten! – Death becomes us Ein Gespräch zwischen Antje Kley und Christina Madenach über Sterben und Tod in der Literatur CM AK CM AK CM AK CM AK CM AK Fragen? Antworten!

RkJQdWJsaXNoZXIy OTA1OTMz