Aviso 04/20

44 Am Anfang der Corona-Pandemie hing in unserem Hauseingang ein handgeschriebener Zettel mit der Telefonnummer eines jungen Paars: Damit Haus- bewohner über 60 sich keiner Ansteckungsgefahr aussetzten, wollte das Paar für sie Einkäufe besorgen. Schöne Menschen! »Wenn Sie sich die Nummer aufschreiben wollen, kann ich ihnen einen Stift geben«, sagte eine weib- liche Stimme hinter mir – eine junge Nachbarin. »Ich gehöre nicht zur Risikogruppe«, rief ich erbost und joggte zur Isar. Damals noch mit 63. In meinem T-Shirt mit der Aufschrift: Science is the poetry of reality. Dieser Spruch und die Geschichte mit dem Zettel passen wunderbar zur wissenschaftlichen Studie Corona und Alter, die ab April 2020 am Institut für Psychogerontologie an der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wird. Das Projektteam Prof. Frieder R. Lang, Fiona Rup- precht und Kristina Martin untersucht persönliche Erfahrungen, Einstellungen, Sorgen undVerhaltens- weisen bezüglich COVID-19.Wie nehmenwir unser eigenes Altern wahr?Machen wir uns Gedanken um ältere Menschen? Aber auch andere Fragen stellen die Altersforscher. Die Studie läuft in monatlichen Erhebungswellen mit jeweils mehr als 1.000 Befragten und liefert schon jetzt interessante Ergebnisse: Zum Beispiel schätzen ältere Befragte das Risiko einer eigenen In- fektion mit dem neuen Coronavirus am niedrigsten ein, jüngere am höchsten. Angst um eigene Gesund- heit ist nicht so ausgeprägt, Sorgen um gesellschaft- liche Folgen der Pandemie überwiegen. Trotzdem herrscht eine große Zustimmung für die Anticorona- Maßnahmen. Dass die Maßnahmen zu weit gehen, empfindet nur etwa ein Zehntel der Befragten. Das beruhigt, wennman bedenkt, wie laut »Querdenker« ihre Pseudowahrheiten verkünden – so laut, bis Karl Valentin, der Querdenker, der Wahre, imGrab ruft: »Etikettenschwindel!« Was sagen aber die Gerontologen von der Friedrich- Alexander-Universität zum Thema dieses Heftes, zur Bedrohung unseres Lebens, zum Sterben und Tod in Zeiten der Pandemie?Wenn ich bei Facebook schreibe, »ich treibe jeden Tag Sport«, kommentiert das sicher jemand mit: »Wie lange willst du noch le- ben?« »Ichwill nicht lange leben«, antworte ich. »Ich will nur davon tanzen können, wenn es so weit ist.« Seit Jahren forschen Frieder R. Lang und Fiona Rupprecht über unsere Einstellungen zum Altern, Alter und Tod. Grund- legende Studien haben sie dazu veröffentlicht, viele interessante Erkenntnisse gewonnen. Auch über die von uns gewünschte Lebensdauer, d. h. unsere ideale Lebenserwartung und unser ideales Alter – das Alter, das uns am besten zusagt: Unter an- derem zeigten die FAU-Forscher, dass sich unser ideales Alter imLaufe unseres Lebens verändert. Das kann ich bestätigen: Wenn mich die Erwachsenen in meiner Kindheit frag- ten, was ich denn sein möchte, wenn ich groß sei, habe ich »Rentner« gesagt. Mit sechs wollte ich also 67 sein.Weil ich die Opas beneide- te, die sich den ganzen lieben Tag hindurch auf den Dorfbän- ken sonnten und nicht arbei- ten mussten. Wenn man aber älter wird, ist das Rentenalter kein ideales mehr: Wir möchten jün- ger sein, als wir uns fühlen, und länger leben, als wir tatsächlich leben, haben die Forscher herausgefunden. Beides hänge dabei von unseremWohlbefinden ab. Bei einer Pandemie leidet jedoch unsere Gesundheit und wir verlieren viel menschliche Nähe. Beeinflusst also auch die Co- rona-Pandemie unsere ideale Lebenserwartung? Das nahm das FAU-Teamvon Prof. Lang an. Andererseits könntenMenschen auf eine lebensbedrohliche Pandemie »trotzig« reagieren, in- dem sie sich ein unrealistisch langes Leben wünschen. Somit nahmen die Forscher an, dass die ideale Lebenserwartung wäh- rend der Pandemie bei manchen Menschen zunehmen und bei manchen abnehmen würde: Manche Menschen würden sich durch die erlebte Pandemie in ihrer Hoffnung auf ein langes Science Slam – Covid-19 und die Fragilität des Lebens Text: Jaromir Konecny Illustration: Tobi Frank Science Slam tatsächliches Alter Idealalter

RkJQdWJsaXNoZXIy OTA1OTMz