Table of Contents Table of Contents
Previous Page  8 / 56 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 8 / 56 Next Page
Page Background

|8|

SUBVERSIVE SEITEN

ZWEI NEUE KÜNSTLERINNENBÜCHER AN DER BAYERISCHEN STAATSBIBLIOTHEK

Text:

Lilian Landes

EINE TÜRKISCHSTÄMMIGE

Deutsche lebt in

Amsterdam von und für die Pflege eines Schwerst­

gelähmten. Es ist kein gewöhnlicher Job, sondern

eine Lebenserfahrung, die sie mit den Grenzen

menschlichen Miteinanders konfrontiert, auch

mit denen des Systems, das das Maß notwendiger

Zuwendung streng beschneidet. Schließlich hängt

sie alles an den Nagel und wagt als Autodidak­

tin den Schritt in die Kunst. Sie wählt eine Aus­

drucksform, die sie wie keine andere Geschichten

erzählen und gesellschaftskritische Botschaften

vermitteln lässt: das Künstlerbuch.

Bücher als Kunstwerke, von Hand unikal herge­

stellt oder als Konzeptwerk erdacht – eine Nische

im zeitgenössischen Kunstbetrieb, aber eine, die

international schwer im Kommen ist. Beldan

Sezen gelingt es, ihre Grenzerfahrungen in Zeich­

nungen zu gießen, die sie mit Tinte im »Line-

Plotting«-Verfahren und mit handschriftlichen

Worten angereichert auf Buchseiten überträgt.

Nein, keine Buchseiten: Jedes der nur acht ent­

standenen Werkexemplare recycelt eine Ausgabe

der Brooklyn Rail, eine kostenfreie Zeitschrift

für Kunst, Kultur und Politik, deren Seiten zu­

vor halbtransparent überstrichen und damit für

ihre neue Funktion grundiert wurden. Sezens Er­

fahrungen von Schmerz, Stille, Bewegungsunfä­

higkeit, Lebenswille und beidseitiger Hilflosigkeit

ruhen so auf dem übertünchten, zum Schweigen

gebrachten Kulturtrubel New Yorks. Blatt für

Blatt wird alles Körperliche der beklemmenden

Pflegesituation in schonungsloser Offenheit zeich­

nerisch abgetastet, wandern Blick und Worte zu­

aviso 1 | 2019

FRAUEN. GLEICHE CHANCEN – ANDERE MÖGLICHKEITEN

BAYERNS VERBORGENE SCHÄTZE

gleich ins Innere von Patient und Pflegender, ohne Betroffenheits­

pathos. Das Künstlerbuch ist womöglich das einzige Medium, das

dieses Zusammenspiel zulässt.

ES IST SEZENS

erstes Künstlerbuch, nach einer Graphic Novel, die

ihr Coming Out dokumentiert und zu verschiedenen Kooperationen

mit etablierten NGOs geführt hatte, für die sie zeichnerisch auf men­

schenrechtsverletzende Situationen aufmerksam macht. Mit »To Sepa­

rate the Body from the Machine« erreicht ihr Schaffen einen Grad an

Professionalität und Authentizität, der sie Mut fassen lässt, sich ganz

der Kunst zu widmen.

Man spürt ihn demWerk an, diesen Mut. Und er wurde belohnt, denn

das Buch wurde für Beldan Sezen zum Türöffner in eine dem Künstler­

buch gewidmete hochkarätige Künstlervereinigung. Seit dem Sommer

arbeitet sie in einem eigenen Atelier in New York, drei Nachfolgewerke

sind bereits entstanden. Eines der seriellen Buchunikate, mit denen sie

ihr neues Leben begonnen hatte, kaufte die Library of Congress, ein

weiteres die Bayerische Staatsbibliothek. Sezens Erstlingswerk wurde

zur ersten größeren Anschaffung, nachdem ich 2018 die Kuratierung

der hiesigen Künstlerbuchsammlung übernommen hatte, die zu den

größten und vielfältigsten Deutschlands zählt.

VIELFALT IST EIN

entscheidendes Stichwort, denn Künstlerbücher

bilden einen enorm breiten Fächer. Während das gemalte, gezeich­

nete, collagierte oder handgebundene Buchunikat dessen einen Rand

beschreibt, tritt am anderen Ende die Idee vom Original in den Hin­

tergrund. Stärker maß- und formgebend sind hier das Konzept an sich

und die leichte, kostengünstige Verbreitbarkeit des Druckwerks, mit­

unter auch dessen typographische Gestaltung.

Ein schlichtes weißes Taschenbüchlein etwa, das eine Abschrift von

Donald Trumps Rede vor der CIA am Tag nach seiner Amtseinfüh­

rung enthält, zerlegt in schaurig-genüssliche Happen von 140 Zeichen