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Verena Nolte

ist Gründerin und Geschäftsführerin von

Kulturallmende. Kulturallmende gUG ist eine gemeinnützige

Gesellschaft, die Projekte in Literatur, Bildender Kunst

und anderen Sparten der Kultur konzipiert und durchführt.

Zum Weiterlesen

Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland,

Europäische Union, Hrsg. Katharina Raabe, Valerio 17/2015 –

Reihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,

Göttingen 2015, S. 154.

Karl Schlögel, Dnipropetrowsk – Rocket City am Dnepr

und Potjomkins Stadt in: Entscheidung in Kiew. Ukrainische

Lektionen, München 2015, S. 183.

Journalisten, Literaturvermittler, Dolmetscher, Überset-

zer, Kulturvermittler. Ein illustrer Schwarm, oder sollte ich

sagen Pilgerzug, der sich jedes Jahr mit einem anderen Ziel

aus verschiedenen Richtungen in Bewegung setzt. Zwischen-

landung meistens in Kiew. Die ukrainischen Schriftsteller/

innen bevorzugen die Züge, speziell Nachtzüge. Dort finden

sie vielleicht ihre Inspiration für ihre wilden Geschichten und

ungewöhnlichen Bilder. 2016 kamen wir in der Millionen­

metropole Dnipropetrowsk an, die sich gerade in Dnipro um-

benannt und Petrowski abgelegt hatte, sowjetischer Politiker

undmutmaßlicher Hauptverantwortlicher für die von Stalin

angeordnete Hungersnot, denHolodomor. Dnipro, Russisch

Dnepr, heißt auch der Fluss, groß und breit und gigantisch,

ein europäischer Strom, auf den wir von unserem Tagungs-

ort hinunterschauten. Nichts hatten wir geahnt von ihnen,

wir Deutschen, von den großen ukrainischen Städten, die für

uns im Schatten der bekannten – Kiew, Lemberg, Odessa –

standen, und auch einige der ukrainischen Teilnehmerinnen

und Teilnehmer waren zum erstenMal hier. Dnipro, ehemals

Jekaterinoslaw, und unter Katherina der Großenmaßgeblich

erbaut von ihrem Protegé Potjomkin, war wegen der dort an-

gesiedelten sowjetischen Raketenbauindustrie bis 1989 eine

geschlossene Stadt, unzugänglich für Ausländer, gewesen.

Aber seither ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen,

und man hätte diese Stadt mit ihrer an westliche Städte er-

innernden Skyline schon einmal am Horizont auftauchen

sehen können. Dem schon erwähnten Osteuropahistoriker

und Schriftsteller Karl Schlögel, der die Ukraine früh bereiste

und seit der Krimannexion zu den leidenschaftlichsten

Verteidigern der unabhängigen Ukraine gehört, verdanken

wir ebenso genaue wie anregende Städteporträts, zu denen

auch Dipro und Charkiw gehören.

IN DNIPRO HIELTEN

wir uns zum erstenMal in einer ukrai­

nischen Stadt auf, in der eine Mehrheit der Bevölkerung Rus-

sisch spricht. Wir beobachteten, dass Ukrainischsprachige

mit ihrem russischsprachigen Gegenüber wie selbstverständ-

lich jeder in seiner Sprache kommunizierte. BeimTreffen von

Lemberg hatten wir von der Unterdrückung der ukraini-

schen Sprache und Literatur in der Sowjetzeit gehört und wie

wichtig es sei, dass die ukrainische Sprache mit ihrer langen

Literaturgeschichte nun ihre Emanzipation durchsetze. Wir

spürten, dass hier noch immer eine Bedrohung empfunden

wurde, auch wenn wir nicht an einen Sprachkrieg denken

wollten. Ein Thema war in Lemberg auch das Surschyk ge-

wesen, eine Mischsprache aus beiden. Es ging darum, obman

sie in der Literatur verwenden dürfe, solle. Einige waren dafür,

andere ganz dagegen. In Dnipro und Charkiw hatten wir

unter den ukrainischen Schriftsteller/innen auch russischspra-

chige Autoren und Geisteswissenschaftler. Unsere simultan

gedolmetschten Treffen öffneten sich folglich auch der rus-

sischen Sprache, ohne dass dies Probleme aufgeworfen hätte.

DER NAME CHARKIW

wird von denmeisten Deutschen nicht

verstanden. Sie kennen die Stadt, wenn überhaupt, unter Char-

kow, der russischen Bezeichnung. Dorthin zog es uns also, mit

dem dritten deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen, in

den äußersten Nordosten der Ukraine. Die Grenze zu Russ-

land ist fünfzig Kilometer entfernt, das Konfliktgebiet, wie

es euphemistisch heißt, zweihundert Kilometer. Karl Schlö-

gel beklagt in seinem Städteporträt die »Abwesenheit einer

großen europäischen Stadt in unserem Horizont«. Charkiw

war eine Hochburg des Futurismus und Konstruktivismus,

von dem viele von uns nie gesehen Gebäude zeugen. In die-

ser Satdt erlebte der junge LewKopelew entscheidende Jahre,

und es rührte mich, dass die beiden Charkiwer Schriftsteller

Andrej Krasnjaschtschich und Juri Zaplin, die mir, das Tref-

fen vorbereitend, ihre Stadt vorstellten, mich auf die Spur von

Lew Kopelew führten, von dem sie wussten, dass er lange in

Deutschland gelebt hatte. Auch Karl Schlögel hat ihm, was

meine Charkiwer noch nicht wussten, in seinem Charkiw-

Porträt ein Kapitel gewidmet.

Was bleibt und was wird kommen von

Eine Brücke aus Papier

?

Vieles. Texte in drei Sprachen, Interviews, Freundschaften,

Annäherung, Kenntnis des Anderen. Manches davon spie-

gelt die bislang zweisprachige Projektwebsite

paperbridge.de

wider. Auf ihr sind einige Texte nachzulesen. Die Papierbrü-

cke wurde auch zu einer Kunstbrücke, denn in Dnipro und

Charkiw gehörten Künstlerinnen und Künstler zu unserem

Tross. In beiden Städten und in der Hauptstadt Kiew spiel-

ten wir mit ihnen auf in Künstlergesprächen und Ausstellun-

gen. Eine Brücke aus Papier kann eben viel tragen, wenn es

um Literatur und Kunst geht. Aber eines bleibt bei allen, die

mitzogen in das unbekannte Land, das uns so gastfreund-

lich aufnimmt: Eine Sehnsucht nach der Weite und Schön-

heit der Ukraine und ihrer noch zu entdeckenden Städte. Auf

Wiedersehen also 2018 inMariupol amAswoschenMeer zur

Vierten Brücke aus Papier.

WIR DANKEN UNSEREN

Förderern: Dem Auswärtigen

Amt der Bundesrepublik Deutschland, dem Bayerischen

Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, der Bay-

erischen Staatskanzlei und dem Kulturreferat der Landes-

hauptstadt München.

aviso 2 | 2018

KUNST = MEDIZIN

RESULTATE

linke Seite

Von links nach rechts: Cover Programmheft Lwiw 2015,

Gestaltung Studio Botschaft München.

Eine Brücke aus Papier, Lwiw 2015, Stadtführung mit Jurko Prochasko.

Blick auf den Dnipro/Dnepr, Dnipro 2016.

Gedenkstätte für die Toten des Kriegs im Donbass, Dnipro 2016.

Skyline von Dnipro, 2016.

Juri Zaplin, Andrej Krasnjaschtschich, vor der Buchhandlung Litera

Nova mit dem ukrainischen Buch von Karl Schlögel, Charkiw 2017.

© Kulturallmende