aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 12-13

aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
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Erst viel später
, nachdem die Kids aus dem Haus sind
und wenn klar ist, dass der Gipfelpunkt im Beruf erreicht
(oder eben nicht erreicht) ist; wenn man merkt, dass man
im Sport abbaut und die Idee, dass man noch einmal ganz
von vorne anfangen könnte, sich als Illusion erweist, schlicht:
wenn man um die eigene Endlichkeit nicht mehr nur abstrakt
weiß, sondern sie als konkrete bemerkt, erfolgt eine neue
Zuwendung zu geistigen Inhalten. Und dann hat klassische
Musik einiges zu bieten!
Das Publikum ist bislang also immer wieder von selbst »nach-
gewachsen« – schließlich können die heutigen Silberschöpfe
unmöglich dieselben sein wie vor 30 Jahren. Das Problem
heute ist ein anderes: das einer möglicherweise abgerisse-
nen Tradition. Denn Klassik entdeckt in der Regel nur der
Mensch für sich, der als Kind einen Kontakt dazu hatte. Und
hier klafft eine Lücke: Denn wir, die nach 1960 geborenen,
sind die erste Generation, die ohne einen allgemeinverbind-
lichen Kanon an Kenntnissen der klassischen »humanisti-
schen« Künste groß geworden ist. Demzufolge gibt unsere
Generation auch keinen solchen Kanon an die nächste
Generation weiter.
Muss es wirklich Klassik sein?
Die grundlegende Frage an dieser Stelle ist natürlich, was
klassische Musik uns heute noch bedeutet und bedeuten kann
und was uns das wert ist. Ich bin überzeugt davon, dass die
Musik, die zwischen 1650 und 1950 in Europa entstanden
ist, zum Besten gehört, was die Menschheit jemals geschaf-
fen hat. Sowohl in ihrem Anspruch als nicht funktional oder
rituell gebundene Kunstform als auch in ihren Strukturen
(Polyphonie und Harmonie sind eine weltweit einmalige Ent-
wicklung in der Menschheitsgeschichte) ist sie etwas absolut
Einzigartiges, und es wäre schade, wenn wir als Gesellschaft
den Zugang zu diesem Erbe verlieren würden.
Während manche
Musikstile nur noch von historischer
Bedeutung sind, scheinen die Werke jener Epoche etwas zu
transportieren, das uns Heutigen noch immer etwas zu sagen
hat. Entscheidend dafür scheint die Komplexität klassischer
Musik zu sein. Natürlich gibt es andere nicht-triviale Musik­
stile wie etwa den Jazz, aber cum grano salis kann man sagen,
dass die die Welt dominierende kommerzielle Rock- oder
Popmusik überwiegend aus kurzen Stücken besteht, die
jeweils nach einem einzigenMuster inMelodiebildung, Tempo
und Ausdruck aufgebaut sind. Klassische Musik dagegen
bildet vielgestaltige Formen und Verläufe: Das musikalische
Material wird verwandelt, verändert, kontrastiert, es wird
umgestellt, es gibt mehrere Stimmen, die mit- und umein-
ander verschlungen sind, die harmonischen Abfolgen sind
teilweise von großer Komplexität – diese Musik fordert dem
Hörer einfach mehr ab. Dadurch löst sie auch eine breitere,
differenziertere Skala von Gefühlen aus, die wir mit Worten
nur unzureichend beschreiben können. Victor Hugo schrieb,
Musik drücke das aus, was nicht gesagt werden kann und
worüber zu schweigen unmöglich sei.
Warum gerade die Musik, die zwischen 1650 und 1950
geschrieben wurde, eine solche Bedeutung und Beliebtheit
erlangen konnte, darüber können wir nur spekulieren. Es
scheint so, dass sie eine so vollendete Balance zwischen unmit-
telbarer Fasslichkeit und Komplexität, zwischen Eingängig-
keit und der Ansprache auch tieferer Seelenschichten erreicht,
wie es weder vorher noch danach jemals wieder gelungen ist.
Klassische Konzerte
sind deshalb imGrunde eine Art
lebendiges Museum, in dem die »Bilder«, die vor Jahrhun-
derten gemalt wurden, immer wieder neu gehängt – sprich:
aufgeführt – werden müssen, damit sie vom Publikum gese-
hen werden können. Dabei finden über die Jahrzehnte und
Jahrhunderte immer wieder neue Werke Aufnahme in den
»Bestand«. Daran ist nichts Schlimmes – ein Museum kann
etwas Großartiges sein! Wir hören Beethovens Sinfonien
schließlich aus demselben Grund an, aus dem wir zur Sixti-
nischen Kapelle pilgern: Weil diese Werke etwas sagen, was
offenbar auch heute noch gültig ist, weil sie uns auch heute
noch etwas geben.
Es kommt halt darauf an, wie die »Bilder« im Museum prä-
sentiert werden. Und hier stimme ich Brembeck und Kolle-
gen aus ganzemHerzen zu, dass Klassisches allzu oft weichge-
spült wird. Dass von denMusikern »Dienst nach Vorschrift«
gemacht wird, dass allzu oft Mut und die Fantasie fehlen, um
aus Konzerten und Opernaufführungen wirkliche Erlebnis-
se und nicht nur aufgeplusterte Events zu machen. Nur ist
das eine Frage der Ausführung, nicht der Grundsätzlichkeit.
Das Hinhören lernen
Kunstgenuss ist eine wesentliche Dimension des Mensch-
seins. Ästhetik und ihre Wahrnehmung ist das demMenschen
Eigentümliche, es ist einWert an und für sich, er gibt der Seele
(wie unscharf dieser Begriff auch immer sein mag) Nahrung.
Deshalb zielen auch alle Begründungen, die Kunstgenuss auf
»Nützlichkeit«, etwa eine Steigerung der Lernfähigkeit oder
eine Verbesserung der Gesundheit, reduzieren, zu kurz: Hier
wird unzulässig versucht, etwas zu funktionalisieren, was den
Kern des Menschseins ausmacht.
Unter den Künsten hatte die Musik seit jeher eine Sonderstel-
lung. Sie berührt uns auf eine geheimnisvolle Art und Weise
so tief wie kaum eine andere Kunstform. UmMusik um ihrer
selbst willen, ohne Tanz, ohne Ritus, ohne Unterhaltung
zuzuhören, hat sich eine Kulturtechnik entwickelt, die eben-
falls einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist: Das
konzentrierte Zuhören. Untersuchungen zeigen, dass dabei
imGehirn ähnliche Prozesse ablaufen wie bei der Meditation.
Diese Art des
Zuhörens ist in einer Welt, in der es nicht
möglich ist, Aufzug zu fahren, ohne mit Musik berieselt zu
werden, nicht mehr selbstverständlich. Heute müssen wir
eigentlich permanent weghören. Und genau so ist die meiste
Musik der Gegenwart ja auch gedacht: als Stimmungsmacher,
für den Hintergrund, als »musikalische Tapete«, wie es Eric
Satie schon vor 100 Jahren vorgedacht
hatte. Dem aber widersetzt sich die
»Klassik«: Klassische Musik ist Hin-
hörmusik. Ihren ganzen Reichtum und
Zauber entfaltet sie erst bei weit geöffne-
ten Ohren und einer konzentrierten Hin-
wendung – sie bedarf der Achtsamkeit.
Kann das jüngere Menschen heute über-
haupt noch ansprechen?
Kinder: das Publikum der Zukunft
Sicher ist jedenfalls, dass Menschen, die
dieses Zuhören als Kinder nicht gelernt
haben, die keinerlei Kontakt zu klassi-
scher Musik hatten, es schwer haben, den
Weg dorthin als Erwachsene zu finden.
Denn Kinder und ihre reifenden Gehirne
werden geprägt in bestimmten Lebens-
altern. So wie wir, einmal auf das westli-
che Tonsystem geeicht, nur schwer etwa
in die mikrotonale Welt indischer Ragas
eintauchen können, so werden Kinder,
die keine Erfahrung mit »klassischer«
Musik gemacht haben, als Erwachsene
kaum noch einen Zugang dazu finden.
Das liegt daran, dass bestimmte Arten
der Informationsverarbeitung, die zum
Verständnis komplexerer Musik notwen-
dig sind, nicht angelegt werden.
Deshalb ist es
wichtig, dass Kin-
der diese Erfahrung im entsprechenden
window of opportunity machen kön-
nen. Dann können sie später, nach der
Zeit der Pubertät und Adoleszenz, als
Erwachsene zu diesen Erfahrungen
zurückkehren, an sie anknüpfen. Das
ist auch die Aussage vieler Erwachse-
ner, die sich an die frühen Begegnun-
gen mit Klassik erinnern und nun dort
weitermachen, wo sie als Kinder aufge-
hört haben. Mehr noch: Viele Menschen
bedauern es im Erwachsenenalter aus-
drücklich, dass ihre Eltern nicht darauf
gedrungen haben, amKlavier-, Flöten-,
Geigen-Spiel »dranzubleiben«.
Sollten die Kinder durch das Erlebnis
von Musik den Wunsch bekommen,
aktiv zu musizieren, ergießt sich gera-
dezu ein Füllhorn weiterer Fertigkei-
ten über sie: Sie üben Motorik, Vor-
stellungskraft, Durchhaltevermögen
(Üben macht nicht immer Spaß!),
Genauigkeit und soziale Interaktion.
Und noch mehr: Vorausgesetzt, dass wir Differenzierungsfähigkeit und Empathie als
erstrebenswert ansehen, dann tut man mit dem Erwerb von klassischer Musik
genau das.
Stellvertretend für viele Forschungen steht folgendes Statement des Neurologen
Prof. Eckart Altenmüller von der Medizinische Hochschule Hannover: »Nach
unseren eigenen Untersuchungen unterstützt Musik hören und Musik machen
bei Kindern die Gehirnvernetzung und die Ausbildung der Hör- und Bewegungs-
zentren in der Großhirnrinde. Kinder mit Zugang zur Musik haben ein besseres
Sprachgedächtnis und größere Konzentrationsfähigkeit und sie sind feinmotorisch
geschickter. Neue Erkenntnisse zeigen sogar, dass musizierende Kinder schon in
den Kitas hilfsbereiter und kooperativer sind und die Gefühle anderer Menschen
feiner wahrnehmen!«
Dass das klassische
Erbe ein wertvolles ist, das weiterzureichen sich lohnt,
scheint in den letzten Jahren allgemein erkannt worden zu sein. Seit der ersten
PISA Studie hat sich unglaublich viel getan im Bereich »Klassik für Kinder«. Als
die
taschenphilharmonie
2005 ihre ersten Konzerte für Kinder veranstaltete,
waren wir mit einigen wenigen Kollegen allein auf weiter Flur. Heute ist das
Angebot unüberschaubar, jedes Orchester, das auf sich hält, hat heute ein Kinder-,
ein Junior-Programm, eine »junge Bühne«, eine Kinderdramaturgie. Fraglich ist
allerdings, ob das, was da – mit teilweise immensem finanziellen Aufwand – auf
die Beine gestellt wird, wirklich das ist, was gut für die Kinder ist.
oben
Die
taschenphilharmonie
unter Leitung des Dirigenten Peter Stangel in der
Allerheiligenhofkirche in München.
© Astrid Ackermann
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