AVISO 01/21

Das Erklärstück, für Anke Das Erklärstück – Equipment First Im letzten Raum der Ausstellung Soil’s Song im Kallmann-Museum begegnen wir der beeindruckenden Rauminstallation Equipment First. Kannst Du kurz beschreiben, was wir hier sehen? Vor einem leichtenVorhang, der in sattenBlau- undTürkistönen die Schwere einer zerklüfteten Gletscherfront zeigt, scheinen auf dem weißen Museumsboden verteilt helle Gummistiefel in den Boden zu schmelzen. Die Installation ist ein Bild für meine Wahrnehmung der sich verändernden arktischen Welt. In die Arktis, genauer nach Spitzbergen, bist Du schon mehrfach gereist und Du hast die Erfahrungen dieser Reisen in Deiner Kunst verarbeitet. Was war der Ausgangspunkt von Equipment First ? Manchmal sind es kleine Verschiebungen in der eigenenWahr- nehmung unsererWelt,Momente, in denen der Zusammenhang und die Struktur unseres Lebensraumes für uns sprichwörtlich »aus den Fugen geraten«, uns der Boden unter den Füßen weg- gezogen wird. Als ob dieser Boden dazu da wäre, verfugt und ausgebeutet zu werden. So ein Moment kann dann genau den Bruch im eingefahrenen Sehen und Denken bilden, durch den man auf neue Ideen kommt. Der initiale Auslöser zu Equipment First war der Moment, als ich das erste Mal arktischen Boden betrat – und er war nicht eisig, fest und feindlich, sondern tau- end, fließend, verschwindend. Erzähle uns doch mehr von diesem besonderen Moment. Am 2. Oktober 2018 wache ich auf der Antigua, einem Segel- schiff, in der Arktis vor Spitzbergen auf. Ichmuss mich orientie- ren. Die Antigua liegt ruhig in der Bucht, ich schaue noch nicht auf die Karte, nicht auf eine Uhr, ich messe das Außen noch an meinem Innen. Vor uns liegt zwischen den Bergen der Gletscher Esmarkbreen. Es ist grau und bewölkt, aber der Gletscher leuchtet in diesem Blau und Grün, das lebendig ist und nicht zu fotografieren, weil es sich in seiner Eigenartigkeit jeden Augenblick verändert; die zerklüftete Wand, die hier in die Ymerbucht kalbt, ist für mich nicht begreifbar, ich verstehe ihre innere Logik nicht, ich weiß nichts über Gletscher, ich brauche ein System. Seine Größe ist unklar, und er kommt aus der Ferne oder wan- dert in die Ferne, ich stellemir vor, dass dieses uralte Eis aus dem Wasser steigt und in die Berge zieht. Es gibt keine Skala, keine Hinweise. Die Farbperspektive fehlt, alles ist gleich klar, hoch undweit. Das einzige, was bleibt, sindGravitation und die Regel- mäßigkeit vonTag undNacht, aber auch sie wird in den nächsten Tagen in Frage gestellt. Diesen Monat beginnt die Polarnacht. Mittags gehen wir an Land. Vom Mutterschiff in das Zodiac. Erste Male sind immer das Beste, der Lebensraum schrumpft noch mehr zusammen, auf Schlauchbootgröße und die Innen- seite der Kleidung. Die Hauptstadt mit ihren Horizontalen und Vertikalen und die künstlichen Oberflächen, in denen ich mich sonst bewege, der versiegelte Boden, die Flughafenlounges und der Beton bleiben zurück, und die Kiesel am Ufer und die Fos- silien auf demWeg unter den Sohlen meiner Gummistiefel und in der behandschuhten Hand sind jetzt endlich echt. Meine Ausrüstung ist super, die Karabinerhaken, der stylische Fotorucksack, und richtigmies, die Füße, dieKnöchel, dieOhren können hier nicht, was sie sollen. Beim Gehen sehe ich auf den Boden, ich muss stehenbleiben, wenn ich mich umschauen will. Auf demRückweg zumZodiac bricht die dünne Eisschicht unter meinen Füßen und ich versinke bis zu den Knien im Schlamm. Er saugt sich an den Stiefeln fest und nimmt mir die Kontrolle. Jemand reicht mir die Hand, ich halte ihr die Kamera hin, wir lachen. Equipment first. Lena von Goedeke ist Konzeptkünstlerin und Bildhauerin aus Berlin. Dieses Jahr wurde sie mit dem Stipendium des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia Bamberg ausgezeichnet. Sie studierte an den Kunst- akademien in Münster, Trondheim und Düsseldorf. Mehrere Auslandaufenthalte als Artist in Residence und zu Recherche­ zwecken in der Arktis prägen ihre Arbeit. Sie wurde zuletzt mit dem Kallmann-Preis des Kallmann-Museums Ismaning und dem DEW21 Kunstpreis Dortmund sowie einem Sonderstipendium der Stiftung Kunstfonds ausgezeichnet. Lena von Goedeke wird durch die Galerie m Bochum und die Galerie Rettberg in München vertreten. Rasmus Kleine ist Kunsthistoriker. Er leitet seit 2013 das Kallmann-Museum in Ismaning. 12

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